Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Verlangt der Arbeitgeber von Arbeitnehmern auf der Grundlage von § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG in einer bestimmten Form und ggf. innerhalb einer bestimmten Frist den Nachweis jeglicher Arbeitsunfähigkeit, betrifft dieses Verlangen zwar grundsätzlich das Ordnungs- und nicht das – mitbestimmungsfreie – Arbeitsverhalten der Arbeitnehmer, jedoch ist ein für die Mit-bestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs 1 Nr. 1 BetrVG notwendiger kollektiver Sach-verhalt nur gegeben, wenn die entsprechenden Anordnungen des Arbeitgebers regelhaft erfolgen.
(Bundesarbeitsgericht, BAG, Beschluss vom 15. November 2022 – 1 ABR 5/22 ; Leitsatz)
Die Arbeitgeberin – ein Unternehmen mit rund 1175 Beschäftigten – ordnete inner-halb von annähernd drei Jahren gegenüber 17 Arbeitnehmer*innen die Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsnachweisen mit folgendem gleichlautenden Schreiben an:
„….,
in Abstimmung zwischen Ihrem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter sind Sie ab Erhalt dieses Schreibens bis auf Widerruf dazu verpflichtet, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest – vom ersten Fehltag an – im Service Center Personal vorzulegen. Bitte beachten Sie, dass arbeitsrechtliche Maßnahmen eingeleitet wer-den, wenn Sie dieser Nachweispflicht nicht nachkommen.
…..“
Der Betriebsrat hat die Ansicht vertreten, bei dieser Angelegenheit habe er mitzu-bestimmen. Es handele sich um eine Maßnahme, die das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer*innen betreffe. Ihr kollektiver Bezug folge schon aus dem gleichför-migen Inhalt und der Form der Anweisungen sowie dem jeweils zugrunde liegen-den Verfahren einer vorherigen Abstimmung zwischen dem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter. Zudem verlange die Arbeitgeberin eine Arbeitsunfähigkeitsbe-scheinigung ab dem ersten Fehltag bei häufigen Kurzerkrankungen der Arbeitneh-mer und bei hohen Fehlzeiten mit vielen Einzelfehltagen.
Er leitete ein Beschlussverfahren gegen die Arbeitgeberin ein mit dem er vor allem beantragte, der Arbeitgeberin aufzugeben, es zu unterlassen, ihren Mitarbei-ter*innen die Auflage zu erteilen, ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen, wenn nicht ein Fall des § 5 Abs. 1 Satz 2 bzw. 4 EFZG vorliegt, es sei denn, der Betriebsrat hat der Erteilung zugestimmt oder die Zustimmung wurde durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt.
Das BAG wies – wie die Vorinstanzen – die Anträge zurück.
Grundsätzlich kann die Anordnung zur früheren Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbe-scheinigungen das Mitbestimmungsrecht eines Betriebsrats betreffen, weil es eine die Ordnung des Betriebs betreffende Frage umfassen kann (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 Be-trVG). Vollzieht der Arbeitgeber bei der Ausübung seines Bestimmungsrechts nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG eine selbst gesetzte Regel – etwa indem er das Verlangen gleichermaßen gegenüber allen Arbeitnehmer*innen, gegenüber einer Gruppe von ihnen oder zumindest immer dann geltend macht, wenn bestimmte Voraussetzun-gen erfüllt sind – oder liegt der Ausübung dieses Rechts eine Regelhaftigkeit zu-grunde, gestaltet er die betriebliche Ordnung in kollektiver Art und Weise. Dieser kollektive Bezug liegt nicht vor, wenn es sich um Anweisungen handelt, die aus-schließlich auf individuellen Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses beruhen. Die Abgrenzung erfolgt insbesondere nach den folgenden Kriterien:
Es kommt entscheidend darauf an, dass das „Ob“ einer Geltendmachung des ar-beitgeberseitigen Bestimmungsrechts nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG im Unterneh-men regelhaft erfolgt. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn die Arbeitgeberin nach stets gleichen Voraussetzungen – wie einer bestimmten Anzahl von Fehltagen – eine entsprechende Anordnung zur früheren Vorlage von ärztlichen Arbeitsunfä-higkeitsbescheinigungen vornimmt.
Die Tatsache, dass im vorliegenden Fall immer die gleichlautenden Schreiben ge-nutzt wurden, reichte dem BAG nicht aus. Es sah in der Formulierung „in Abstim-mung zwischen Ihrem Fachvorgesetzten und dem Personalleiter“ lediglich eine Standardisierung des – mitbestimmungsfreien – Arbeitsverhaltens derjenigen Ar-beitnehmer*innen, die über die Anordnung im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG zu entscheiden haben.
Auch die Anzahl der betroffenen Beschäftigten (17 von 1.175 Beschäftigten inner-halb von annähernd drei Jahren) sah das BAG nicht als ausreichendes Kriterium für eine Regelhaftigkeit an, sondern vielmehr als weiteres Indiz für einzelfallbezogene Entscheidungen.
Fazit:
Die häufig praxisrelevante Frage, wann die Anordnung zur früheren Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auslöst, wenn sie gegenüber mehreren Beschäftigten erfolgt, hat ein paar Konturen bekommen: allein die Verwendung von im Wesentlichen gleichlautenden Schreiben wird nicht rei-chen. Auch muss die Anzahl der Betroffenen eine erhebliche Schwelle überschritten haben. Wann diese erreicht ist, legt das BAG – wie so oft – nicht fest. Die Betroffenheit von 1,5% aller Beschäftigten in drei Jahren reicht jedenfalls nicht.
Es wird vielmehr auf andere auslösende Kriterien, wie zum Beispiel eine bestimmte Anzahl oder Lage von Fehltagen ankommen. Das sollten Betriebsräte im Zweifelsfall durch entsprechende Informationsverlangen klären.
Sigrid Britschgi, Fachanwältin für Arbeitsrecht
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